Geschichte umfassend annehmen, ohne sie sich zurecht zu biegen
Das Mehrheitsbündnis plant mit einem gemeinsamen Antrag „Verantwortung zeigen für die Kolonialgeschichte Hannovers – Erarbeitung eines gesamtstädtischen dekolonialisierenden Erinnerungskonzeptes“ (Drucks. Nr. 0227/2023) die Einrichtung eines weiteren Beirates und die Erarbeitung eines umfangreichen Konzeptes. Wir bringen hierzu einen Änderungsantrag ein. Wir wollen den Blick auf die deutsche expansionistische Politik nach Osteuropa erweitern und fordern eine vorherige Bürgerbeteiligung. Eine neue Welle der Straßenumbenennungen wird es mit uns nicht geben.
„Sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen, kann nie falsch sein. Dass es in den letzten Jahren verstärkt zu einer Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe Europas gekommen ist, ist daher zu begrüßen. Die Art und Weise, wie dies nun auch in Hannover geschehen soll, scheint meiner Fraktion und mir jedoch ideologisch begründet und daher stark verkürzt zu sein", so Jens Enders, kulturpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion.
Ohne die zweifellos begangenen Gräueltaten der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika und Asien relativieren zu wollen, muss man festhalten, dass Deutschland unter den europäischen Kolonialmächten eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat. Man kam spät und wollte vor allem Wilhelms II. (Deutscher Kaiser von 1888 bis 1918) Traum vom ‚Platz an der Sonne‘ verwirklichen. "Auch eine unmittelbare Verbindung oder gar Verstrickung Hannovers in die britische Kolonialpoltik erscheint konstruiert, mindestens aber nicht ausreichend durch entsprechende Forschung belegt. Georg III. war schon nicht mehr in Hannover geboren und hatte für seine deutschen Stammlande nur noch wenig übrig – Personalunion hin oder her", so Enders. Eine Auseinandersetzung mit deutscher Kolonialgeschichte ist also durchaus wichtig und jedem seien beispielsweise die bewegenden Schilderungen des Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah ans Herz gelegt.
Der Fokus einer unzweifelhaft vorhandenen deutschen Expansionspolitik lag demgegenüber aber schon immer auf Ost- und Südosteuropa. Und dies schon lange, bevor es eine deutsche Nation überhaupt gab. "Diesen Aspekt darf man aus unserer Sicht nicht vergessen, weil er zu einer wirklichen Auseinandersetzung zwingend dazugehört. Gerade die aktuelle politische Situation zeigt, wie wenig wir über unsere östlichen Nachbarn wissen und wie oft wir immernoch von einem Überlegenheitsgefühl ihnen gegenüber geprägt sind", betont Enders.
Zuvor ist zudem eine Bürgerbefragung, wie sie auch in unserer Partnerstadt Bristol durchgeführt wurde, zwingend erforderlich. Bevor man mit erziehrischen Maßnahmen von oben herab an die Bevölkerung herantritt, sollten hier erstmal Bedarf und benötigter Umfang abgeklärt werden. Hier stimmen wir mit einer grundsätzlichen Position von Rot-Grün überein: Politik muss die Menschen mitnehmen, wenn sie Akzeptanz erreichen will.
"Eine erneute mögliche Umbenennungswelle von Straßen und Plätzen wird es, das ist nichts Neues, mit uns nicht geben. Ich halte nichts davon, mit der namentlichen Tilgung von Orten den Versuch zu unternehmen, sich nachträglich die Geschichte zu basteln, die einem genehm ist. Besser wäre es, die vorhandenen Orte zu kontextualisieren und den Grund ihrer Benennung dadurch wieder ins Bewusstsein zu heben, statt sie einfach bloß verschwinden zu lassen“, verdeutlicht Enders.